Samstag, 28. Januar 2017

Trügerische Idylle



Juli Zeh: Unterleuten. 635 Seiten. 24,99 €. Luchterhand
Ich habe das Buch tatsächlich an einem Wochenende ausgelesen. Und hätte nicht gedacht, dass mich eine Geschichte aus der Brandenburgischen Provinz mit dem Dorf Unterleuten so fesseln würde. Das liegt an der genauen, immer ein wenig spöttischen und trotzdem liebevollen Beschreibung der Romanfiguren: Der alte Kron, ein knorriger Kommunist und sein Gegenspieler Gombrowski, ein Grundbesitzer, der das ganze Dorf beherrscht. Zugezogene Städter, wie die überfürsorgliche Mutter Jule, verheiratet mit dem Vogelschützer Gerhard. Frederic und Linda aus Berlin, er Spieleentwickler, sie Pferdeflüsterin und Powerfrau, die rücksichtslos ihre Interessen durchsetzt. Dazu einige Nebenfiguren wie die Katzenfreundin Hilde und der dubiose Automechaniker Schaller. Juli Zeh beschreibt deren Denkmuster, Gefühle und Verhalten. Verbunden sind die Personen im erbitterten Kampf für und gegen einen Windpark im Dorf, an dessen Planung sich die unterschiedlichen Interessen zeigen. Mit den Konflikten entfaltet sich eine spannende Geschichte um alte Schuld, Unrecht, Untreue, Eifersucht, verpasstes Glück und Illusionen von dörflicher Idylle.
Diese Verflechtung hätte kompliziert werden können, wenn die Autorin nicht einen dramaturgischen Kunstgriff genutzt hätte: Jede Person spricht für sich. Ähnlich wie die Spielfiguren am Münchner Rathaus  erscheint kreisend eine nach der anderen immer wieder im Vordergrund und treibt so die Geschichte aus ihrer Sicht weiter.
Genau beobachtet, mit Humor geschrieben – ein Lesevergnügen. 

Dienstag, 10. Januar 2017

Schmerzhaft



Antoine Leiris: Meinen Hass bekommt Ihr nicht. Blanvalet. 12.-€
Im November 2016 wurden dreißig Menschen im Theater Bataclan in Paris von Terroristen ermordet, darunter auch Hélène, die Frau des Journalisten Antoine Leiris. Zwei Tage später schrieb er einen Brief an die Terroristen, in denen er ihnen mitteilte, dass sie ihr Ziel, mit ihrer grausamen Tat Hass in sein Herz zu säen, nicht erreichen: „Nein, ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen….Auf den Hass mit Wut zu antworten würde bedeuten, derselben Ignoranz nachzugehen, die euch zu dem gemacht hat, was ihr seid.“ Er veröffentlichte seine Mitteilung auf Facebook. Millionen Menschen auf der ganzen Welt lasen sie und nahmen Anteil am Schicksal dieses Mannes, der mit seinem 17 Monate alten Sohn Melvil allein zurückgeblieben ist.
Aus dem Facebook-Eintrag ist das Buch entstanden. Darin geht es nicht um den Terroranschlag oder politische Analysen. Vielmehr ist es ein persönliches Erlebnisprotokoll der zwei Wochen nach der Tat, vom Zeitpunkt an, als Leiris von Hélènes Tod erfährt. Mit ihr hat er die Liebe seines Lebens verloren, doch er darf sich seiner Trauer nicht hingeben, denn sein kleiner Sohn braucht ihn. Tägliche Rituale mit Melvil wie Abendessen, Baden und Vorlesen halten Leiris aufrecht. Dabei versucht er, seinen Sohn so gut wie möglich darüber hinwegzutrösten, dass seine Mutter nicht mehr wiederkommt.
Das Buch in Tagebuchform ist Ausdruck des tiefen Schmerzes eines Mannes, der sein Liebstes durch sinnlose Grausamkeit verloren hat und darum kämpft, nicht in seiner Trauer unterzugehen, die Kontrolle über sein Leben und seine emotionale Würde zu behalten. 
In anderen Rezensionen fällt es mir leicht, darauf hinzuweisen, ein Buch sei gut geschrieben. Bei diesem würde das zynisch klingen. Aber tatsächlich beeindruckt es mit seiner schlichten, klaren  Sprache und der präzisen Beschreibung von Gefühlen, Gedanken und äußeren Umständen. Nicht melodramatisch, sondern wahrhaftig. Mich hat es sehr bewegt, zumal sich mir wie wohl jedem die Frage stellt: Wie würde es einem selbst in so einer Situation ergehen? Ich hoffe, dass viele Menschen dieses Buch lesen.